Tagungsbeitrag

Rüffer, Jens:

Religiöse Traditionen und religiöse Usurpation in der mittelalterlichen Sakraltopographie

Im Mittelpunkt des Beitrages stehen zum einen die Abteikirche St. Riquier und die Kirche des St. Galler Klosterplans aus karolingischer Zeit, zum anderen Christ Church Canterbury, eine Benediktinerabtei, die zugleich Sitz des Primas von England war.

Beide Schwerpunkte veranschaulichen unterschiedliche Facetten der Sakraltopographie. Mit Blick auf St. Gallen und St. Riquier geht es primär um Momentaufnahmen, während für Canterbury der zeitliche Verlauf (10.-12. Jh.) mit zwei liturgischen Reformen von besonderer Bedeutung ist.

Um die Abteikirche St.-Riquier gruppierten sich zwei weitere Kirchen, alle drei wurden durch Stationsgottesdienste miteinander verbunden. Die an römische Traditionen der sieben Hauptkirchen angelehnte liturgische Verknüpfung konnte aber auch durch Altarpatrozinien in einem Gebäude, quasi als Minimalvariante realisiert werden (St. Galler Klosterplan). Doch ordnen sich Kirchen- und Altarpatrozinien in ein größeres religiöses Gesamtkonzept ein, das eine religiöse Standortbestimmung der Institution darstellt und ihren religionspolitischen Anspruch zeichenhaft visualisiert. Mit der tendenziellen Aufgabe der Doppelchoranlagen, der konsequenten Ostung der Kirchen kam es ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu einer liturgischen Dynamisierung. Es fielen nicht nur die Altäre im Westen weg, die eine zeichenhafte Verbundenheit mit Alt-Sankt-Peter in Rom nahe legten. Es kam vor allem zu liturgischen Selektionen und Konzentrationen, die durchaus mit althergebrachten Traditionen brachen. Dies lässt sich am Neubau der Kathedrale von Canterbury unter Lanfranc zeigen, der nicht nur eine liturgische Reform durchsetzte, sondern auch die damit verbundenen neuen räumlichen Strukturen, die vor allem eine Reduktion der Altarstellen zur Folge hatten. Diese Einschnitte waren gravierend, vor allem deshalb, weil der von Wilhelm dem Eroberer berufene Lanfranc die angelsächsischen Heiligen dem Vergessen anheim stellte. Dies rief massiven Widerstand hervor, sodass unter Anselm eine Integration der angelsächsischen Traditionen im sogenannten Konradchor erfolgte.

Vergleichend wird auf unterschiedlichen Ebenen nach regionalen und überregionalen liturgischen Traditionsbezügen aber auch Brüchen gefragt, die sich räumlich konkret artikulierten. Dies geschieht vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der Institution (Kloster) sowie eines möglicherweise überregionalen Anspruchsniveaus derselben.