Tagungsbeitrag

Schädler-Saub, Ursula:

Mittelalter-Revival und Restaurierung im 19. Jahrhundert

Die Wiederentdeckung der Denkmäler des Mittelalters im 19. Jahrhundert im Geiste der Romantik und des aufkeimenden Nationalgefühls führte zum intensiven Studium mittelalterlicher Kunst und zum praktischen denkmalpflegerischen Handeln. Es war eine Reaktion auf die jahrhundertelange Vernachlässigung und Zerstörung mittelalterlicher Sakralbauten, die ihren Höhepunkt in den Abbrüchen und Umnutzungen von Kirchen und Klosteranlagen nach der Säkularisation gefunden hatten.
In Hildesheim hatte dies unter anderem dazu geführt, dass das ehemalige Benedik¬tinerkloster von St. Michael ab 1809 unter Einbeziehung des Kirchenbaus in eine Nervenheilanstalt umgewandelt wurde. Engagierte Hildesheimer Bürger unter Leitung von Hermann Roemer setzten sich ab 1844 für das ehrwürdige Bauwerk ein und erkannten zu Recht, dass nur die „Wiederherstellung der Michaeliskirche als Gotteshaus“ das Denkmal retten könnte. Der Hannoveraner Architekt Conrad Wilhelm Hase, eigentlich ein Vertreter der Neugotik, leitete die „stilgerechte“ Wiederherstellung des „romanischen“ Bauwerks und seiner Ausstattung in den Jahren 1855-57. Dabei konnte er sich auf seine umfangreichen Studien mittelalterlicher Bauwerke in Niedersachsen stützen. Geldmangel schränkte die Umsetzung der geplanten Wiederherstellungsarbeiten allerdings stark ein. Ein Schüler Hases, der Architekt Karl Mohrmann, konnte die Instandsetzung 1907-10 unter günstigeren Voraussetzungen im Geiste seines Lehrers wieder aufnehmen. Diese „neo-romanische“ Restaurierung bestimmte das Aussehen von St. Michael bis zu den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg.
Der Vortrag will zunächst an Bild- und Schriftquellen sowie an restauratorischen Befunden die beiden wichtigsten Restaurierungsphasen des Historismus rekonstruieren und das Erscheinungsbild des Kirchenbaus 1857 bzw. 1910 vorstellen. Die historische Bedeutung und die ästhetische Qualität dieser eng miteinander verbundenen Restaurierungen sollen dann auf nationaler und europäischer Ebene untersucht und gewürdigt werden. Dabei ist die für Hildesheim spezifische „Neo-Romanik“ im Kontext der allgemeinen Begeisterung für die Gotik besonders hervorzuheben.


Prof. Dr. Dipl. Rest. Ursula Schädler-Saub, promovierte Kunsthistorikerin und Diplom-Restauratorin; nach dem Studium in Italien viele Jahre als Restauratorin und Gebietsreferentin für Kunst- und Baudenkmale beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege tätig. Seit dem Wintersemester 1993/94 Professorin an der HAWK für das Lehrgebiet „Geschichte und Theorie der Restaurierung, Kunstgeschichte“; parallel dazu ehrenamtlich für das Deutsche Nationalkomitee von ICOMOS (Internationaler Denkmalrat) in Deutschland und anderen europäischen Ländern als Beraterin tätig
Forschungsschwerpunkte: Restaurierungsgeschichte und Restaurierungstheorie
Weitere Infos: http://www.hawk-hhg.de/kulturgut/149248.php


HAWK Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen