Tagungsbeitrag

Knecht, Johannes Vincent:

Zwischen Ornament und Gestalt – Zu den methodischen Herausforderungen von Zwischenzuständen

Gegenstand des Beitrages sind Bildelemente aus Buchmalerei und Bauskulptur, die in der hergebrachten Denk- und Sprechweise der Kunstgeschichte als Spielarten des Ornamentalen zu beschreiben sind, aber so gestaltet wurden, dass sie vom Betrachter spontan als figürliche Erscheinungen, als Gesichter oder Gestalten, angeschaut werden können.

Dieses Sowohl-als-auch von Ornament und Figürlichkeit beruht nicht nur auf Phantasie und willkürlicher Assoziationsleistung des Betrachters, sondern ist Ergebnis einer vorsätzlichen Gestaltungsabsicht, die eine anthropo- oder zoomorphe Sehweise provoziert.
Häufig steht dabei das plötzliche Erscheinen von Augen im Mittelpunkt: der Betrachter wird unerwartet zum Betrachteten. Aus diesem unheimlichen Effekt lassen sich, etwa im Rückgriff auf die Theorie des Blickes bei Lacan, Spekulationen über Sinn und Funktion derartiger subikonographischer Formen begründen.

Die noch immer mächtige dichotomische Trennung von figürlich-semantischen und vermeintlich bloß ausschmückenden Formen leistet nicht nur einer semantischen Depotenzierung und Marginalisierung des Ornaments Vorschub, sondern verstellt auch den Blick auf das Dazwischen, auf das prozessuale Erscheinen von Gesicht und Gestalt aus vegetabilem Rankenwerk und abstrakten geometrischen Formen. Diese Erscheinungen an der Schwelle zur Figürlichkeit sind schwer zu beschreiben und dingfest zu machen, zumal etablierte Begriffe fehlen: Vor welchen gedanklichen Herausforderungen steht ein klassischer Bildbegriff im Angesicht uneindeutiger Gebilde? Wie kann man der Trennung, die den traditionellen begrifflichen Kategorien innewohnt, entkommen?


Johannes Vincent Knecht, Studium der Kunstgeschichte, Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaften in Berlin und Edinburgh. 2002-2009 Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Tätigkeiten u. a. als Mentor am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin und im Besucherdienst der Gemäldegalerie Berlin. Magisterarbeit zu Anselm Kiefer (1,0). Gegenwärtig Abfassung einer Doktorarbeit zu Perspektiven des Ornamentalen in der romanischen Bauskulptur bei Prof. Eberhard König. Seit 2011 Lehrbeauftragter am Institut für Kunstwissenschaft der Hochschule für bildende Künste (HBK) in Essen. 2012 Mitbegründer des Berliner Arbeitskreises Kunstgeschichte des Mittelalters (BAKM).