Tagungsbeitrag

Reichwald, Helmut:

Zu den Oberflächen des Doppelhauses von Le Corbusier und Pierre Jeanneret in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart

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Die Württembergische Arbeitsgemeinschaft des Werkbundes entschied im März 1925 im Rahmen des Wohnungsbauprogamms der Stadt Stuttgart eine Siedlung mit 60 Wohneinheiten zu errichten. Die Stadt Stuttgart stellte zur Errichtung der Siedlung das Gelände am Weißenhof, eine unbebaute Hanglage am Killesberg, zur Verfügung.

Die Bezeichnung Weißenhof ist ein Flurname, und geht auf eine Hofanlage der Gebrüder Weiß aus dem 19. Jahrhundert zurück und hat nichts mit der Farbe „Weiß“ der dort errichteten Siedlung zu tun. Mit der Errichtung der Siedlung wollte die Stadt modernes Bauen in einem festgelegten Kostenrahmen unter jeglichen Verzicht auf Luxuseinrichtungen erreichen. Der Werkbund seinerseits wollte das Projekt im Rahmen einer Werkbundausstellung „Die Wohnung“ als geschlossene Präsentation Neuen Bauens vorstellen. Mit dieser Ausstellung sollten neue Maßstäbe hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit, Funktionalität, Konstruktion, technischen Ausstattung und Möblierung gesetzt werden. Der Deutsche Werkbund berief seinen Vizepräsidenten Mies van der Rohe als künstlerischen Ausstellungsleiter und beauftragte diesen mit der Koordination des Gesamtprojekts.

Zur Realisierung der Bauvorhaben lud man europaweit die bekanntesten Vertreter der neuen Bewegung ein. Le Corbusier und sein Vetter Pierre Jeanneret waren von Mies van der Rohe für ein Einfamilienhaus am Bruckmannweg und für ein Doppelhaus an der Rathenaustrasse vorgesehen. Bis zur Ausstellungseröffnung am 23. Juli 1927 hatten die im Oktober 1926 eingeladenen Architekten nur kurze Zeit, um Entwurf, Planung, Genehmigung, Bau und Einrichtung ihrer Häuser für das gesamte Baugelände umzusetzen.
Im Dezember 1926 sandten Le Corbusier und Pierre Jeanneret erste Pläne nach Stuttgart.
Im März 1927 mussten die Baupläne wegen zu hoher Gesamtkosten nochmals überarbeitet werden. Erst Ende April lagen die fertigen Baupläne vor. Alfred Roth aus dem Büro von Le Corbusier kam von Paris nach Stuttgart, um die Errichtung der beiden Häuser vor Ort zu betreuen und bis zur Ausstellungseröffnung einzurichten. Er hatte nur zwölf Wochen Zeit, um die geplante Baumaßnahme umzusetzen. Am 22. Juni 1927 war die Rohbauabnahme, der Innenausbau und das Anlegen der Gärten begann unverzüglich. Am 17. Juli 1927 schrieb Roth an Le Corbusier, dass „morgen 17 Maler mit dem Anstrich für innen und außen beginnen“. Für die Fassaden hatte Roth von Le Corbusier auf seinen Axionometrien detaillierte Farbangaben erhalten, die auch umgesetzt wurden. Für die Innenräume fehlten solche Pläne mit Angaben zur Farbverteilung. Le Corbusier hatte Roth nur ein Blatt mit Farbtonmuster überlassen, in das er handschriftlich die Zuordnung zu den Bauteilen vermerkte. Nach fünf Tagen waren die Malerarbeiten, noch rechtzeitig zur Ausstellungseröffnung am 23. Juli 1927 fertig gestellt. Erst Anfang Oktober 1927, kurz vor der Schließung der Ausstellung zum 31. Oktober, besuchten Le Corbusier und Pierre Jeanneret Stuttgart und damit erstmals ihre Häuser.

In den 1980er Jahren wurden an den einzelnen Gebäuden der Weißenhofsiedlung umfangreiche Sanierungen durchgeführt und baukonstruktive Schäden beseitigt. Am Einfamilienhaus Bruckmannweg 1 und am Doppelhaus Rathenaustrasse 1+3 war es notwendig gravierende Bauschäden zu beheben und nachträgliche Veränderungen rückzubauen. Vor der Planung und Bauausführung erfolgte an den Fassaden und in den Innenräumen eine restauratorische Untersuchung und Dokumentation.
Im Haus 1 führten man die Veränderungen der Raumstrukturen nicht auf den bauzeitlichen Grundriß zurück. Küche und Sanitärbereiche passte man den Nutzungsansprüchen an. Die Decken- und Wandflächen erhielten eine Raufasertapete, im Treppenhaus eine Beklebung mit einem Glasflies, die Oberflächen strich man mit einer weißen Dispersionsfarbe.
In Haus 3 war 1984 vorgesehen, spätere Veränderungen rückzubauen und bauzeitliche Strukturen zu rekonstruieren. Die Planung und Wiederherstellung orientierte sich an den noch vorhandenen Bauplänen und an dem noch am Bau ablesbaren Bestand. Für die Oberflächen standen die Ergebnisse der restauratorischen Untersuchung und die Farbvorgaben von 1927 zur Verfügung. Bei allem Bestreben einen bauzeitlichen Gesamteindruck von architekturfarbigen Oberflächen wieder herzustellen soll nicht unerwähnt bleiben, dass bei den durchgeführten Baumaßnahmen 1984/87 mit der noch verbliebenen Originalsubstanz nicht gerade sensibel umgegangen wurde.

Abgesehen von erheblichen Verlusten bauzeitlicher Mörtelsubstanz an den Decken- und Wandflächen im Innern der rechten Haushälfte hat man, wie in der linken Haushälfte, die Mörteloberflächen mit einer stark strukturierten Raufasertapete und im Treppenhaus mit einem strukturiertem Glasflies beklebt. Diese Untergründe erhielten die Farbgliederung von 1927 mit einer hoch vergüteten Dispersionsbeschichtung. Die Farbgebung und Farbenverteilung an den Wänden entsprachen zwar den Vorgaben von 1927, der Fassungsaufbau erfolgte zu dieser Zeit jedoch mit einer Leimfarbe direkt auf dem Kalk-Gipsmörtel ohne Oberflächenstruktur. An den Fassaden sind nach der Untersuchung am Doppelhaus sämtliche, noch vorhandenen bauzeitlichen Mörtel mit den verschiedenen Farbfassungen entfernt worden. Der Grund war das Aufbringen einer Wärmedämmung.
Die von Le Corbusier entworfenen Einbaumöbel in den einzelnen Raumteilen wurden bereits 1932/33 entfernt. Bei der Rekonstruktion 1987 wurden diese nach Plänen und Fotos in Holz und nicht wie 1927 in der gemauerten Grundkonstruktion wieder hergestellt. Über die ehemalige Farbfassung dieser Bauteile gibt es keine Anhaltspunkte, sie erhielten seinerzeit eine Graufassung.
Die rechte Haushälfte war der Versuch einer originalähnlichen Rekonstruktion mit den Vorgaben einer weiteren wohnlichen Nutzung, die auch bis 2000 bestand.

Die bauliche Instandsetzung 2002 – 2005
Die Stadt Stuttgart erwarb das Doppelhaus 2002 von der Bundesvermögensverwaltung. Nach der Instandsetzung ist dort für 2006 ein Informationszentrum für die Weißenhofsiedlung vorgesehen. In der linken Haushälfte wird eine didaktische Dokumentation die Siedlungsgeschichte zeigen, in der rechten Haushälfte wird eine Rekonstruktion der bauzeitlichen Strukturen mit den ehemaligen Einbauten und farblichen Gliederungen als begehbares Museum der Öffentlichkeit übergeben.
Die Wüstenrot Stiftung hat das Doppelhaus in ihr Erhaltungsprogramm für Bauten der Moderne aufgenommen und die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt. Wie schon bei anderen Projekten hat die Wüstenrot Stiftung ihren wissenschaftlichen Beirat in das Denkmalprojekt eingebunden und sich fachlich beraten lassen.
Im Vorfeld einer erneuten Instandsetzung war eine Bestandsaufnahme aller bauhistorischen Vorgänge notwendig, indem alle verfügbaren Unterlagen ausgewertet und der vorhandene Baubestand analysiert wurde. Hinzu kamen restauratorische Untersuchungen an den Trägermaterialien und bauzeitlichen Fassungen unter Einbeziehung bisher vorliegenden Dokumentationen. Alle technisch relevanten Gegebenheiten und konstruktiven Elemente sind im Vorfeld überprüft und in das Maßnahmenkonzept eingebunden worden. Abgesehen von bautechnisch / statisch notwendigen Eingriffen beschränkte sich das Erhaltungskonzept auf eine Bestandssicherung der bereits 1984/87 begonnenen Rückführung und Annäherung an das bauzeitliche Erscheinungsbild. An den Fassaden konnte der Wärmedämmputz bis auf durch Feuchtigkeit geschädigte Bereiche erhalten bleiben und die Farbgebung durch eine mineralisch gebundene Fassung wiederholt werden.

Die bereits 1984/87 rekonstruierte Farbgebung der Innenräume in der rechten Haushälfte auf den strukturierten Untergründen (Raufasertapete/ Glasflies) entsprach keinesfalls den bauzeitlichen Gegebenheiten einer auf glatten Untergründen aufgetragenen Farbgliederung. Um sich dem ehemaligen technologischen wie auch optischen Fassungsaufbau anzunähern wurden die Raufasertapeten entfernt, die mit Glasflies beklebten Wandflächen erhielten eine mit einer Spachtelmasse geglättete Oberfläche. Eine Abnahme der Glasfliesbeklebung musste aus technischen Gründen unterbleiben, da sich das Klebemittel nur in einem aufwendigen Verfahren lösen ließ und die noch darunterliegenden originalen Fassungsschichten nicht ohne erhebliche Verluste freizulegen waren. Zur Rekonstruktion der Farbfassung erhielten die Decken- und Wandflächen eine Papierflieskaschierung die mit einem Zellulosekleister aufgebracht wurde. Dadurch konnten alle noch vorhandenen Fassungsschichten geschützt werden. Die Neufassung erfolgte in Bürstentechnik mit einem reversiblen Material, welches der ehemals in Leimtechnik ausgeführten Anwendung ähnlich ist. Alle Metalluntergründe sind mit einer mageren Ölfarbe nach Befund gefasst worden. Noch fünf erhaltene Türblätter aus der Bauzeit haben als Erstfassung einen Rotton der bisher nicht bekannt war. In der rechten Haushälfte hat man diesen Farbton auf allen Türblättern rekonstruiert. Der Versuch durch Rekonstruktion den schmerzlichen Verlust originaler Oberflächen wenigstens augenscheinlich wieder erlebbar zu machen, darf nicht dazu führen, bei moderner Architektur einen anderen Maßstab als den bisher gewohnten Qualitätsanspruch in der Denkmalpflege anzulegen.

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