Tagungsbeitrag
Karrenbrock, Reinhard:
Das Passionsretabel aus St. Michael in Hildesheim
Das um 1525/30 geschaffene Passionsretabel, das ursprünglich wohl für den Kreuzaltar der St. Michaeliskirche bestimmt, wurde 1812 im Zuge der Säkularisation aus der ehemaligen Klosterkirche St. Michael entfernt. Die zentralen Bestandteile dieses Retabels, dessen zugehöriger Schrein sich nicht erhalten hat, gelangten, nachdem sie zuvor an anderer Stelle verwahrt worden waren, 1843 in den Hildesheimer Dom, wo sie danach an verschiedenen Orten aufgestellt wurden. 1961 wurden die qualitätvollen Reliefs schließlich in die St. Maria-Magdalenenkirche verbracht, wo sie seitdem in einem neu angefertigten Schreingehäuse als Hochaltarretabel dienen.
Erhalten haben sich fünf aus Lindenholz gefertigte, in ihren Ausmaßen nahezu quadratische Reliefs, auf denen jeweils mehrere Ereignisse der Passion simultan dargestellt sind. Auf dem großen mittleren Relief sind so – neben der Kreuzigung – die Kreuzannagelung, die Beweinung und die Grablegung zu sehen; die vier kleineren Reliefs, die ursprünglich auf den Innenseiten der Flügel angebracht gewesen sein dürften, zeigen dagegen sämtlich Szenen vor dem Kreuzestod Christi, beginnend beim Letzten Abendmahl. Die Passionsszenen, deren Kompositionen in Auseinandersetzung mit verschiedenen graphischen Vorlagen (so z. B. Holzschnittfolgen von Cranach und Dürer) geschaffen wurden, könnten demnach vollständig erhalten sein. Es stellt sich deshalb die Frage, wo mehrere weitere, archivalisch bezeugte Reliefs untergebracht waren (in der Predella ?), und was auf ihnen dargestellt war; wie waren die Außenseiten der Flügel gestaltet und wie kann man sich den Aufbau des gesamten Schreingehäuses vorstellen?
Von besonderem Interesse erscheint zudem die Oberflächengestaltung des Retabels, dessen Reliefs offensichtlich (auch wenn hier genauere technologische Untersuchungen noch fehlen) nicht polychrom, sondern holzsichtig konzipiert waren. Nachgegangen werden soll darüber hinaus der künstlerischen Verortung der Passionsreliefs in der südniedersächsischen Bildhauerkunst der Zeit um 1520/30, deren vielfältige Verflechtungen und Wechselbeziehungen bislang nur in Ansätzen untersucht sind.
Dr. Reinhard Karrenbrock, Studium der Kunstgeschichte, Mittelalterliche Geschichte und Volkskunde in Münster.
1989 Promotion zum Thema "Evert van Roden. Der Meister des Hochaltars der Osnabrücker Johanniskirche".
1989-91 Neubearbeitung des Dehio-Handbuches Bremen/Niedersachsen.
1993-1998 DFG-Projekt "Spätmittelalterliche Holzskulptur" Bestandskatalog des Schnütgen-Museums in Köln.
Seit 2000 Leiter der Inventarisation (Kunstpflege) im Bischöflichen Generalvikariat Münster.
Zahlreiche Veröffentlichungen und Ausstellungen zur mittelalterlichen Kunst, vornehmlich zur spätmittelalterlichen Skulptur in Norddeutschland, Westfalen, Rheinland und in den Niederlanden.