Tagungsbeitrag
Mueller, Monika E.:
Vom Armarium zur Studien-Bibliothek bei St. Michael in Hildesheim (11.-15. Jh.)
Über 60 mittelalterliche Codices des Michaelisklosters haben sich weltweit verstreut erhalten, größere Bestände werden in Hildesheim (Dombibliothek, Dom-Museum) und in Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek) aufbewahrt. Auf die Gründungszeit verweisen weniger Texthandschriften, als vielmehr die kostbaren illuminierten Liturgica: Bischof Bernward widmete prachtvoll gestaltete Codices, die primär wohl für den Hildesheimer Dom bestimmt waren, als Grundausstattung für St. Michael um. Mit den Opera des Prudentius, Vitruv und des Boethius haben sich Texthandschriften des 9.-11. Jahrhunderts erhalten, die nicht in St. Michael geschrieben, sondern im Umfeld der Gründung, u.a. als Schenkung Bernwards und des Abtes Goderamnus, dorthin gelangt sein müssen.
Zahlreiche Bände des 12./13. und 15. Jahrhunderts belegen die kulturelle und spirituelle Blüte des Klosters in nachbernwardinischer Zeit, Prachthandschriften wie das Ratmann-Sakramentar den hohen Stand der Theologie und die Bemühungen um die Kanonisation Bernwards im Michaeliskloster. Vertreten sind aus dem 12./13. Jahrhundert vor allem Werke aus dem Bereich der Artes liberales sowie der Theologie und Philosophie, außerdem der antiken Dichtung und der Geschichtsschreibung. Dieser Bestand wurde im Zuge der Reformen des 15. Jahrhunderts neu geordnet und durch Schriften aus dem Umfeld der Bursfelder Kongregation und der Devotio moderna erweitert. In dieser Zeit neu geschriebene Bernward-Viten belegen die Bemühungen des Klosters, die Verehrung des Gründerbischofs zu fördern.
Die Geschichte der Bibliothek von St. Michael war bislang weitgehend unerforscht. Seit 2008 ist jedoch die Analyse des Buchbestandes von St. Michael sowie der Organisation der Hildesheimer Buchproduktion Gegenstand eines an der Herzog August Bibliothek angesiedelten Forschungsprojektes. Welche kulturellen und spirituellen Entwicklungen und welche Prozesse der Wissensordnung sich am erhaltenen Bestand widerspiegeln, soll im Beitrag erstmals gezeigt werden. Prachtcodices wie die Guntbald-Handschriften und besonders der Bernwardpsalter werden berücksichtigt, um die Frühzeit der Hildesheimer Buchproduktion und die durch die Gründung von St. Michael bedingten Modifikationen zu skizzieren.
Monika E. Müller, Studium der Kunstgeschichte, der lateinischen und italienischen Philologie in Tübingen und Urbino; 2005 promoviert mit einer Arbeit über das Ausstattungsprogramm der Benediktinerkirche San Pietro al Monte di Civate; von 2006-2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Tübingen am DFG-Projekt "Romanische Kreuzgänge in Frankreich und Spanien"; seit 2008 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel verantwortlich für das Projekt "Erforschung des Bernwardpsalters und der Bibliotheksgeschichte von St. Michael in Hildesheim".
Forschungsschwerpunkte: Kunst des Mittelalters, insbesondere Buchmalerei und Apokalypsenzyklen, Kunst im Zeitalter der Kirchenreform; Prozesse der Wissensordnung in monastischen Bibliotheken.