Tagungsbeitrag

Trinks, Stefan:

'Spanien und die Frage des mediterranen Kulturtransfers – Goldschmidts Elfenbeinarchäologie revisited'

Vielleicht war das historische Europa vor Erfindung des Flugzeugs nie mobiler als in der Umbruchzeit des 11. Jahrhunderts. Nicht nur verursachte der Investiturstreit einen permanenten Austausch von Ideen und inhaltsschweren politischen Schriften mit symbolträchtigen Bildern zwischen dem nordalpinen Raum und Rom. Auch über den Jakobsweg als von zehntausenden Pilgern und auch Künstlern begangene Straße waren das äußerste westliche Ende Europas mit Santiago de Compostela sowie Mittel- und Osteuropa engst verbunden. Bewährte ältere Bildformulare beispielsweise der antikennahen ottonischen Buchmalerei und Elfenbeinschnitzerei wurden zwischen dem Hl. Römischen Reich und den mit Ausnahme von Asturien im 11. Jh. erst wieder entstehenden nordspanischen Reiche ausgetauscht, um deren labile Repräsentation innerhalb der "drei Kulturen" zu legitimieren.

Da eine autochthone Kunstproduktion in diesen neuen nordspanischen Königreichen kaum mehr existierte, wurden mittels finanzieller und sozialer Anreize, den sogenannten Fueros (i.e. verbriefte Privilegien, die – wie im Fall des Fuero für die aragonesische Hauptstadt Jaca – Künstler mit Rittern gleichstellte) zahlreiche Künstler auf die Iberische Halbinsel gezogen, wie neuere Namensforschungen kombiniert mit genauen stilistischen Analysen belegen (allein der Namen "Aleman" findet sich bei Künstlern mehrfach in Quellen des 11. Jahrhunderts). Am Fall des vermutlich in einer Hildesheimer Werkstatt geschulten Künstlers Engelram und dessen Sohn Rudolf, die sich beide inschriftlich und bildlich auf dem gigantischen Elfenbeinschrein des Hl. Millan von Cogolla in Nordspanien verewigt haben, kann auf nahezu einzigartige Weise der Transformationsprozess von Motiven aufgezeigt werden, welche die augenscheinliche Stilpluralität dieses Reliquiars verständlich macht.

Ein anderes Hauptwerk der Reliquiarkunst des 11. Jahrhunderts, der vor 1063 fertiggestellte, silberne und teilvergoldete Monumentalschrein des spanischen Nationalheiligen Isidor von Sevilla, zeigt stilistisch engste Parallelen zu den Hildesheimer Bronzetüren (Bredekamp/Seehausen 2005) und bildet damit ein unwiderlegbares Beispiel für die künstlerische Überbrückung auch größter räumlicher Distanzen. Ebenso kann in diversen Fällen die frappierende Kenntnis und wiederholte Rezeption spätantiker und frühmittelalterlicher, nämlich westgotischer Kunstwerke auf der Iberischen Halbinsel demonstriert werden, die zudem häufig eine "neugierig"-einfühlende Adaption, ein Amalgam aus Lokalem und Fremden, Altem und Avantgardistischem, durch nicht aus Spanien stammende Künstler einschließt.

Elfenbeinreliefs (z.B. auf Buchdeckeln) als mobilste, weil leicht zu transportierende Bilddatenträger Europas stehen seit Jahren im Zentrum meiner Forschungen im SFB "Transformationen der Antike". An dem spätantiken Areobindus-Konsulardiptychon, das aus Byzanz nach Oviedo kam und dort an der "karolingischen" Pfalzkapelle in ein monumentales "westgotisch-archaisierendes" Steinrelief zurückverwandelt wurde sowie an zwei bislang kaum beachteten, aber spektakulären Fällen von Elfenbeinschnitzerei gepaart mit den zugehörigen karolingischen bzw. ottonischen Handschriften des 9. und 10. Jhs. möchte ich in Hildesheim die überraschend engmaschigen Netzwerke innerhalb Europas im Frühmittelalter sowie die teils anachronischen Transformationsprozesse auf dem Weg aufzeigen.


Dr. Stefan Trinks, Studium der Kunstgeschichte, der Geschichte, der Klassischen und Mittelalter-Archäologie in Bamberg und Berlin; 1994-1996 Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl Prof. Dr. Franz Matsche, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Kunsthistorisches Institut sowie am Archäologischen Institut, Lehrstuhl Prof. Dr. Walter Sage, Otto-Friedrich-Universität Bamberg; 1998-2002 Wissenschaftliche Hilfskraft am Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance, Humboldt Universität zu Berlin, Kunstgeschichtliches Seminar; Seit März 2000 Galerist für zeitgenössische Kunst in Berlin-Mitte mit K. Jarmuschek; Seit Januar 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt Universität Berlin, Lehrstuhl Prof. Horst Bredekamp; Januar 2007-Oktober 2010 Promotion zum Thema „Antike und Avantgarde. Skulptur im Spanien des 11. Jahrhunderts: Jaca, León, Santiago“; Seit Januar 2011 Assistent am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt Universität Berlin, Lehrstuhl Prof. Horst Bredekamp; WS 2011/12 Vertretung von Prof. Horst Bredekamp, Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung; Seit Januar 2013 Unterbereichsleiter Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ – A17: ›Curiositas‹ und ›Continuatio‹ Neugier auf die zeitgenössische Antike. Das Paradigma Nordspaniens vom 9. bis zum 12. Jahrhundert.